Neuregelung bis Ende 2026Karlsruhe kippt harte Klinik-Pflicht zu Zwangsmaßnahmen

Bislang dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen – wenn überhaupt – nur im Krankenhaus erfolgen. Aber was, wenn der Transport in die Klinik den Patienten schadet? Karlsruhe sieht Änderungsbedarf.

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Uli Deck/dpa

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet ein Urteil.

Karlsruhe (dpa) - Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente verabreichen - und all das gegen den Willen der Betroffenen? Unter bestimmten Voraussetzungen ist das als letztes Mittel rechtlich erlaubt.  Bisher dürfen diese sogenannten ärztlichen Zwangsmaßnahmen aber nur in Krankenhäusern durchgeführt werden – und nicht etwa in spezialisierten ambulanten Zentren, in Pflegeheimen oder im häuslichen Umfeld. Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, dass der ausnahmslose Krankenhausvorbehalt teils verfassungswidrig ist.

Wann dürfen Maßnahmen gegen den Willen der Patienten erfolgen?

Grundsätzlich gilt: Ärztliche Zwangsmaßnahmen dürfen nur die Ultima Ratio sein – also das letzte Mittel. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil immer wieder betont. Davor gibt es ein mehrstufiges Prüfverfahren.  So muss die Maßnahme laut Gesetz notwendig sein, «um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden vom Betreuten abzuwenden». Zudem muss sie bisher «im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist», erfolgen. 

Was hat das Gericht 2016 entschieden?

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2016 schon einmal eine Nachbesserung der entsprechenden gesetzlichen Regelungen verlangt. Bis dahin war Voraussetzung für solche Maßnahmen unter anderem, dass die Patienten in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht waren. Hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, durften nach damals geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren Willen ärztlich behandelt werden. Das verstoße gegen die Schutzpflicht des Staates, entschied der Erste Senat. Der Gesetzgeber musste die Schutzlücke unverzüglich schließen. (Az. 1 BvL 8/15)

Worum geht es diesmal?

Im konkreten Fall geht es diesmal um eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die laut Bundesgerichtshof (BGH) unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Sie wohne in einem Wohnverbund und werde regelmäßig in einem nahegelegenen Krankenhaus zwangsbehandelt. 2022 hatte ihr Betreuer den Angaben nach beantragt, der Frau ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen. Er argumentierte, in der Vergangenheit sei der Transport in die Klinik manchmal nur möglich gewesen, indem man die Patientin fixierte. Dies führe bei ihr regelmäßig zu einer Retraumatisierung. 

Wie landete der Fall in Karlsruhe?

Gerichte lehnten den Antrag ab, sodass der Fall schließlich beim BGH landete. Nach dessen Überzeugung ist die Verpflichtung, eine solche Zwangsmaßnahme in einem Krankenhaus durchzuführen, mit Artikel 2 des Grundgesetzes unvereinbar. Aus diesem Artikel folge eine Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit.  Der BGH legte den Fall daher dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Im Juli verhandelte der Erste Senat dazu mündlich in Karlsruhe.

Was hat das Gericht entschieden?

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das ausnahmslose Verbot von ärztlichen Zwangsmaßnahmen außerhalb von Krankenhäusern teils verfassungswidrig ist. Die betroffene gesetzliche Regelung sei mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit teils unvereinbar, sagte Gerichtspräsident Stephan Harbarth bei der Urteilsverkündung. Grundsätzlich sei die Bindung an einen stationären Aufenthalt in der Klinik zwar zulässig. Die Vorgabe, dass die ärztlichen Zwangsmaßnahmen ausschließlich im Krankenhaus erfolgen müssten, sei aber verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. (Az. 1 BvL 1/24)

Für wen sollen die Ausnahmen gelten?

Unverhältnismäßig ist die ausnahmslose Krankenhauspflicht laut Gericht, wenn bestimmte Voraussetzungen zusammentreffen. Zum einen müssen dem Betroffenen durch die Vorgabe erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit drohen. Außerdem müssen diese Beeinträchtigung in der Einrichtung, in der der Patient untergebracht ist, vermieden oder zumindest signifikant reduziert werden können. Der Standard der Einrichtung muss mit Blick auf die notwendige medizinische Versorgung nahezu einem Krankenhaus gleichen. 

Was geschieht nun?

Der Karlsruher Senat verpflichtete den Gesetzgeber bis Ende 2026 zu einer Neuregelung – bis dahin gilt das bisherige Recht fort. Der Gesetzgeber habe nun verschiedene Möglichkeiten, um den Verfassungsverstoß zu beseitigen: Entweder er hebt die Pflicht eines stationären Krankenhausaufenthalts auf und ersetzt sie durch eine flexiblere Regelung für alle Anwendungsfälle. Oder er behält das Verbot von ärztlichen Zwangsmaßnahmen außerhalb von Krankenhäusern grundsätzlich bei und ergänzt es um eine Ausnahmeregelung. 

Welche Konsequenzen könnte das haben?

«Wir sind nicht angetan vom heutigen Urteil, weil es ein Misstrauen in das Patienten-Therapeuten-Verhältnis hineinbringt», sagte Rüdiger Hannig von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe nach der Verhandlung. «Der hohe Schutzzaun der Klinik» werde eingerissen. Nach Angaben des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener werde die Schutzpflicht des Staates gegenüber den Bürgern «auf perfide Weise ins Gegenteil verkehrt».

Andrea Gerlach, die Leiterin des Wohnverbundes, in der die Frau aus dem konkreten Fall untergebracht ist, begrüßte wiederum die Entscheidung des Senats. Für die Patientin könnte eine Neuregelung weniger Leid und weniger Zwang bedeuten.